Ganzheitliche Behandlung

Wir alle kennen den Ausspruch «Das ist doch nur psychosomatisch» und meinen damit, dass die Krankheit lediglich eingebildet sei. Die Psychosomatik aber ist eine eigene therapeutische Disziplin, die seit Jahren vielen leidenden Menschen hilft. Ein Gespräch mit der Fachpsychologin für Psychotherapie Marieke Kruit und Dr. med. Ramin Atefy, Facharzt für Allgemeine Innere Medizin und Psychiatrie.

Den Begriff Psychosomatik haben die meisten schon einmal gehört. Wie definieren Sie ihn?
Ramin Atefy: Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass jede körperliche Krankheit auch eine Auswirkung auf die Seele hat. Wenn jemand zum Beispiel akute oder chronische Schmerzen hat, derentwegen er oder sie sein Leben nicht mehr wie vorher weiterführen kann, so kann man davon auch psychisch krank werden.
Marieke Kruit: Umgekehrt kann es auch sein, dass länger andauernde psychische Belastungen zu körperlichen Beschwerden führen. Wir alle kennen ja Redewendungen wie «Das geht mir an die Nieren». Stress und Angst sind zum Beispiel zwei Faktoren, welche die Seele und den Körper stark beeinflussen können.

Psychosomatische Leiden können also von einer körperlichen Erkrankung herkommen oder auch einer psychischen?
Atefy: Psychosomatik befasst sich mit Menschen, die ein somatisches, also ein körperliches, und ein psychisches Leiden haben. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ein sozial schlecht integrierter Bauarbeiter mit guten anerkannten Leistungen stellte sich bei mir vor. Er definierte sich dadurch, dass er gut funktioniere und etwas leiste. Seit einem Arbeitsunfall bestanden limitierende Schulterschmerzen, daher konnte er nicht mehr arbeiten. Aus einem wertvollen Mitarbeiter wurde ein Langzeitkranker, er fühlte sich als unerwünschte Person. Auch in seiner Familie sank seine Stellung als Geldverdiener. Sein Selbstbild brach zusammen. Aus den Schulterschmerzen entwickelte sich eine Schmerzausweitung bis hin zur Depression.
Kruit: Kopf und Körper lassen sich eben nicht trennen. Das ist eine dauernde Wechselwirkung. Wer depressiv ist, spürt die Schmerzen stärker, und wer starke Schmerzen hat, kann depressiv werden. Kommt es dadurch zu längeren Ausfällen auf der Arbeit, kommt die Angst vor Stellenverlust hinzu. Ein Teufelskreis beginnt.

Wie funktioniert die Therapie in der Psychosomatik?
Atefy: Der Schlüssel zu einer erfolgreichen Therapie ist das Teamwork. Manchmal findet das Teamwork zwischen dem medizinischen Arzt, also dem Somatiker, und dem Psychiater statt, manchmal hat unser Sozialdienst eine wichtige Funktion, mal ist es die Psychotherapie. Dabei soll der Patient – bildlich gesprochen – nicht in der Mitte sitzen und wir reden im Kreis über ihn, sondern er soll mit im Kreis sitzen und eigenverantwortlich werden, sozusagen als Teammitglied. Ziel ist es, den Patienten zum Experten seiner Krankheit zu machen.
Kruit: Ich mache oft die Erfahrung, dass man zu lange nach einer körperlichen Ursache sucht und dabei die psychische Komponente vergisst. Oft gehen Patienten mit psychosomatischen Leiden von Arzt zu Arzt, von Spezialist zu Spezialist und fühlen sich zunehmend nicht ernst genommen. Aber auch die Behandelnden kommen an ihre Grenzen. Das kann für beide Seiten frustrierend sein.

Oft sind es also lange Leidensgeschichten und demnach auch schlechte Erfahrungen mit Ärzten. Wie begegnen Sie solchen Patienten?
Atefy: Was meistens schon mal hilft, ist, den Patienten ihre Leiden zu erklären, sie verstehen zu lassen, wie Schmerz neurologisch funktioniert und wie er ausstrahlen kann. Wir erklären in unseren Therapien relativ viel, bis wir den Punkt erreichen, an dem der Patient seine Schmerzen versteht und nicht nur bekämpft.
Kruit: Erklären ist ein sehr wichtiger Punkt in der Therapie. Man muss dem Patienten auf Augenhöhe begegnen und in einer verständlichen Sprache beschreiben, woran er leidet und wie wir die körperlichen und psychischen Zusammenhänge sehen. Es gibt viele, die danach bemerken: «Ah, warum hat man mir das nicht schon vorher erklärt?» Die Patienten sollen mithilfe des Therapeuten neue Wege gehen, zum Beispiel im Umgang mit Schmerzen.

Psychosomatische Patienten werden oft auch als Simulanten abgestempelt. Wieso?
Kruit: Das kommt wohl daher, dass ihre Schmerzen nicht immer gänzlich körperlich erklärbar sind. Man darf aber nicht vergessen: Es ist ein Zusammenspiel der körperlichen und psychischen Symptome. Letzteren wird manchmal nicht die nötige Beachtung geschenkt.
Atefy: Also ich habe in meinen Sprechstunden noch nie einen Simulanten gesehen. Simulanten sind Menschen, die bewusst etwas vorspielen mit dem konkreten Ziel, jemanden zu täuschen. Natürlich gibt es vereinzelt Simulanten, etwa solche, die die Invalidenversicherung betrügen wollen. Da reden wir aber nicht von einem psychosomatischen Problem, sondern von einem strafrechtlichen. Meine Patienten sind Menschen wie du und ich.
Kruit: Die Patientinnen und Patienten, die wir behandeln, sind Menschen mit einem hohen Leidensdruck und einer starken Beeinträchtigung auf ihr Leben.

Zu körperlichen Krankheiten können die meisten Menschen stehen. Bei der Psychiatrie gibt es aber oft eine grosse Schwellenangst. Wie nimmt man diese Hemmung?
Kruit: Oft geht der Patient ja bereits seit einiger Zeit mit seinem Leiden zum Hausarzt. Dieser merkt irgendwann einmal, dass er nicht mehr weiterkommt, und meldet den Patienten bei uns an. Der Leidensdruck ist dann meist so gross, dass der Patient, trotz anfänglicher Skepsis, sich auf eine Therapie einlässt. Wichtig ist, Bedenken gegenüber einer psychiatrischen Behandlung anzusprechen und ernst zu nehmen.
Atefy: Die Hemmung, in die Psychiatrie zu gehen oder sich einer Psychotherapie zu unterziehen, die ist leider immer noch gross. Ich bin Mediziner und Psychiater. Und wenn Patienten zu mir ins Büro der Medizin kommen und mich vielleicht noch im Arztkittel sehen, habe ich zu Patienten oft einen leichteren Zugang, als wenn ich sie in normalen Kleidern als Psychiater empfange. Da braucht es noch viel Arbeit, bis psychische Leiden auch in der Bevölkerung als Krankheiten akzeptiert werden.

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